
Liebe Leserin, lieber Leser,
ich bin Marcy und 25 Jahre alt. Noch vor drei Jahren hätte ich meinen Körper wie folgt beschrieben: Lange, schlanke Beine. Wohlgefühl. Im Sommer am Strand Sonne tanken, um die passende Bräune zu meinem neonfarbenen Bikini zu erreichen. Sorgenfreiheit. Und jetzt? Schmerzen, Deformität meiner Beine und Arme, Gewichtszunahme, unzählige blaue Flecken, Veränderung, Sorgen… Lasst uns doch einfach mit einem Rückblick auf meine Diagnosefindung beginnen.
Ich lernte also plötzlich das lange in mir schlummernde Lipödem kennen. Mein Selbstbild wurde erschüttert. Vermeintlich unwiderruflich. Vom einen auf den anderen Tag hatte ich unendlich viele Fragen. Nur langsam finde ich Antworten. Vor mir liegt ein Weg, den ich mir niemals selbst ausgesucht hätte. Und doch führt er mich langsam aber sicher zu meinem wirklichen Selbst. Ich lade Euch ein, mich auf diesem Weg zu begleiten.
Wie und wann begann das alles? Ich bin immer sportlich aktiv und schlank gewesen. Und das bin ich auch heute noch. Doch in einem schleichenden, kaum wahrnehmbaren Prozess veränderte sich mein Leben. Was genau meinen ersten Lipödem-Schub auslöste, kann ich nicht genau sagen. Stress, hormonelle Schwankungen aufgrund einer Endometriose-Behandlung und eine bis vor kurzem unerkannte Schilddrüsenunterfunktion werden aber ihren Beitrag geleistet haben. An der Stelle scheine ich also nicht gerade zögerlich in den genetischen Lostopf meiner Familie gegriffen zu haben. Als pubertierende Jugendliche fragte ich mich nicht gerade selten, ob ich nicht vielleicht doch adoptiert sei. Ihr wisst schon, das ist die Phase, in der sich Kinder für ihre Eltern schämen und andersherum. Nun ja, diese Frage wäre damit wohl dann auch geklärt.
Ich wusste zwar, dass das Lipödem bei uns in der Familie liegt, doch war ich ganz hochnäsig immer von dem Vorurteil beeinflusst gewesen, dass das nur adipöse Menschen betreffen konnte. Ich verschwendete also keinerlei Zeit damit, daran zu denken, als ich Veränderungen an meinen Armen, Beinen und eine Gewichtszunahme von fast 10 Kilo innerhalb weniger Wochen bemerkte. Vor dem Spiegel drehte ich mich hin und her, teilte meine Sorgen mit meinem damaligen Partner und einigen mir nahestehenden Menschen. „Wo willst Du denn zugenommen haben? Selbst wenn, du warst eh immer viel zu dünn. Freu dich doch.“
Ich freute mich nicht. Ich schob es auch darauf, dass mein Partner einfach viel zu gut kochte. Zwanghaft versuchte ich, die gewonnenen Kilos wieder abzunehmen. Ich verlor sogar etwas mehr als das und war bald leicht im Untergewicht. Doch wider Erwarten, lösten sich meine Probleme dadurch nicht in Luft auf. Bald kamen Schmerzen in den Beinen dazu, sowie leichte Schwellungen in den Füßen. Immer wieder entdeckte ich viele und große blaue Flecken an meinen Beinen. Ich ging zum Arzt: Er hatte keine Erklärung dafür.
Er verordnete mir eine Rundstrick-Strumpfhose und riet mir, zum Lymphologen zu gehen. Als ich vorsichtig nach den blauen Flecken fragte, die sich auch durch ein Blutbild nicht erklären ließen, und noch vorsichtiger nach der Idee des Lipödems (ich hatte inzwischen eine uns allen sehr bekannte Suchmaschine mit meinen Symptomen gefüttert), schaute er mich halb irritiert, halb belustigt an und erwiderte nichts. Mir war klar, was er sich dachte. Die ist doch viel zu dünn für sowas. Ich lernte: Es stimmt also, das betrifft schlanke Frauen doch gar nicht.
Ich ging ins Sanitätshaus, wo ich durch Zufall an eine Lipödem-Betroffene Mitarbeiterin geriet. Ich vertraute ihr meine Vermutung, ein Lipödem zu haben, an. Ich erwartete, dass auch sie mich belächeln würde. Sie beäugte skeptisch meine Beine, drückte daran herum und sagte mir, dass ich durchaus irgendeine Art „Problem“ hätte. Wir wussten beide, was sie meinte, sie durfte es nur nicht aussprechen. Sie riet mir zu einer Flachstrickversorgung und drückte mir mehrere Flyer in die Hand. Ich lernte, dass ich ein „Problem“ hatte.
Unzählige Telefonate und Rückschläge später, entschied ich mich, dass ich nicht bereit war, auf eine Warteliste gesetzt zu werden und eine halbe Ewigkeit zu warten, bis mein „Problem“ einen Namen bekommen würde. Gab es nun die Möglichkeit, dass ich trotz Untergewicht an einem Lipödem litt, oder nicht? Warum sahen meine Beine denn sonst auch nach der Gewichtsabnahme so anders aus? Gleichzeitig heißt es doch immer, dass man mit Lipödem gar nicht abnehmen kann? Ich war mehr als nur verwirrt. Irgendjemand sollte mir auf der Stelle sagen, was da bitte gerade mit meinem Körper passierte und wie ich es stoppen konnte.
Ich bezahlte die Diagnostik also privat. Ich sage Euch, wenn ich nicht vorher schon einen angekratzten Selbstwert gehabt hätte, so hätte ich ihn definitiv nach dieser Untersuchung gehabt. Ich stand in Unterwäsche vor einer bildhübschen jungen Ärztin, welche alle meine „Problem“-Stellen kritisch beäugte. Sie kniff mir in jede noch so kleine Speckfalte, wies mich auf Dinge hin, die ich noch gar nicht gesehen hatte und zeigte mir im Ultraschall alle meine Fettzellen. Danach machte sie einen Körperscan und zeigte mir auf der Aufnahme, welches Fett da eigentlich nicht hingehörte. Sie erklärte mir, dass ein Großteil davon nicht mehr weggehen würde und es tendenziell sogar eher mehr werden würde. Ich lernte: ich habe ein Lipödem. Ich bin chronisch krank.
Das ist nun ungefähr vier Monate her. Mittlerweile bin ich mit einer Flachstrick-Strumpfhose und -Leggins versorgt. Ich warte immer noch auf einen Termin, an dem mir gesagt wird, ob ich nicht vielleicht auch ein Lymphödem habe. Vier Monate, in denen ich viel zu oft den Satz „Du doch nicht!“ gehört habe, wenn ich von der Diagnose erzählte. Vier Monate, in denen ich viel zu oft meine betroffenen „Problem“-Stellen zeigen musste, damit mir geglaubt wird, ich aber dennoch kritisch beäugt werde. Vier Monate, in denen ich lernte: Doch, ich. Ich bin chronisch krank. Das ist jetzt mein Leben. Diese Beine gehören zu mir.
Aber ich lernte auch: ich lebe! Und es gibt noch so viel mehr, das ich lernen kann. Dinge, die mein Leben bereichern werden. Und: Das Lipödem macht vor niemandem Halt, egal wie schlank du bist oder wie sehr du dich grade eigentlich in deinem Körper wohlfühlst. Es schlägt zu, wenn es dir am wenigsten passt. Aber: Ich werde lernen, mich selbst wieder zu lieben und auch diese Beine stolz in die Sonne zu halten. Ich würde mich freuen, wenn ihr mich dabei begleitet.
Eure Marcy
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Eine Antwort
Danke für deine Geschichte! Das war so authentisch und fesselnd erzählt, würde ich glatt ein Buch von lesen. Du hast einen tollen Schreibstil.
Selbst mit mehr Gewicht auf der Waage wird man kritisch beäugt.
Mir wurde bei der Frage nach evtl. Lipödem damals erwidert, ich wolle doch mit Anfang dreißig keine chronische Krankheit haben. Also würde man das erstmal nicht diagnostizieren.
Als würden wir das alles freiwillig machen.